Elftklässler des Berufsschulzentrums Stockach tauchen in einem Rollenspiel in die Situation von Menschen ein, die zur Flucht gezwungen werden. Die Schüler machen dabei eindrückliche Erfahrungen.
Einen besonders intensiven Schultag erlebten Schüler der Klasse WGI11 des Berufsschulzentrums (BSZ) Stockach. Im Rahmen des Schulfaches Global Studies (Weltweite Studien) beschäftigten sie sich bei einem Workshop mit dem schwierigen Thema Migration. Lehrerin Melanie Maier unterrichtet in der WGI11 (elfte Klasse des Wirtschaftsgymnasiums Profil International) bilingual – in deutscher und englischer Sprache – Betriebswirtschaftslehre und Global Studies. Sie hatte sich für den Einstieg in die Migrationsthematik bei der Landeszentrale für politische Bildung beworben. "Das ist ein sehr wichtiges Thema und die Klasse ist sehr interessiert und offen. Es ist ein Glück, dass Danny McClelland und Elena Peckhaus von der Außenstelle Freiburg nach Stockach kommen konnten."
Spannend war ein Planspiel, das in Zusammenarbeit mit geflohenen Menschen entstanden war, wie Danny Mc Clelland erklärte. Die Jugendlichen schlüpften in die Rolle von Flüchtlingen. Auf Zetteln lasen sie Angaben zu ihrer Person und fanden sich zu Gruppen oder Familienverbänden zusammen – je nach Vorgabe mussten einige auch allein bleiben. McClelland führte durch das Spiel, bei dem die Ausgangslage für alle gleich war: Sie lebten in einer Diktatur und sollten überlegen, wie sie zu Land und Regierung stünden. Nach einer friedlichen Demonstration gegen die Regierung kamen alle in Polizeigewahrsam, wo sie ein Formular unterschreiben und damit auf nahezu alle Rechte verzichten sollten. Weil die Lage für sie zu gefährlich wurde, sollten sie das Land verlassen. "Ihr habt kurz Zeit, fünf Dinge mitzunehmen", lautete McClellands Vorgabe. Zettel auf dem Boden mit Begriffen wie Handy, Geld, Schmuck, Wasser oder Ausweis wurden schnell gegriffen.
Nur wenige kommen an ihr Ziel
Die Jugendlichen besprachen, wie sie die Flucht gestalten würden, ob die Gruppe zusammenbleiben oder sich trennen sollte, wer an der Küste das rettende Boot besteigen sollte. "Jetzt habt ihr es geschafft. Ihr müsst nur noch den Asylantrag ausfüllen", begrüßte McClelland schließlich die wenigen Ankommenden. Die Sprache des Formulars verstand niemand. Einige füllen es dennoch aus und hatten Glück: Sie wurden aufgenommen. Damit endete das Spiel, das bei den Schülern viel mehr in Gang setzte als zunächst gedacht. Im anschließenden Gespräch stellten sie fest, dass Handy und Geld ihnen nicht immer geholfen hatten, Lebensmittel und Wasser jedoch enorm wichtig waren. Sie diskutierten, ob sie besser allein oder in der Gruppe unterwegs gewesen wären und entwickelten dabei Einsichten und Verständnis für die Flüchtlinge.
Doch vor dem Planspiel ging es um Fluchtursachen und Flüchtlingszahlen. Die Jugendlichen sollten überlegen, wie viele Flüchtlinge sich auf jedem Kontinent aufhalten und welche Länder als reich gelten. Die Annahme, in Europa gebe es extrem viele Flüchtlinge, stimme nicht, lernten sie. Die meisten seien in Asien unterwegs. Weltweit sind über 65 Millionen Menschen auf der Flucht – das besagen die Statistiken des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR. Darunter sind Menschen, die vor Bürgerkriegen fliehen, vertrieben wurden oder der Armut entkommen wollen. Seit dem Zweiten Weltkrieg waren noch nie so viele Menschen gleichzeitig auf der Flucht. Zu diesen Angaben hatten die Schüler viele Fragen, die sie zu Beginn sammelten, um sie im Laufe des Tages beantworten zu können.
Teilnehmer haben eine neue Sicht auf die Welt
Schüler Jason Bernhard sagte nach der Aktion, er habe andere Ansichten von der ganzen Welt, nicht nur von Europa gewonnen. "Es war neu für mich zu sehen, wie hart die es haben, dass sie an der Grenze zahlen müssen oder wegen der Religionszugehörigkeit nicht das Land verlassen dürfen." Auch Laurentius Lürig gewann einen anderen Blick auf die Dinge: "In den Nachrichten geht es viel um Ärger durch Flüchtlinge. Das hat sich bei mir jetzt komplett umgedreht. Natürlich gibt es viele Probleme, aber viele kommen aus Kriegsländern, die können nicht anders. Ich habe das so noch nie betrachtet. Das fand ich gut und sehr intensiv." Sara Klink sagte ebenfalls, die Lage aus Sicht der Flüchtlinge zu betrachten, bringe etwas: "Man sieht und begegnet Flüchtlingen nun ganz anders." Dass der erste Teil des Workshops hauptsächlich in Englisch stattfand, gefiel Anna Gassenmeier: "Ich habe es gut verstanden. Es war ganz anders als sonst im Unterricht. Man hat spontaner über viele Bereiche gesprochen." Es sei überraschend gewesen, dass man manche Dinge gar nicht gewusst habe, ergänzte sie.
Umfassendes Programm
Ob auf europäischer, nationaler oder regionaler Ebene: Migration spielt eine immer größere Rolle im politischen und öffentlichen Leben. Die Europäische Union sucht nach neuen Perspektiven einer gemeinsamen Migrationspolitik und Integration. Tausende Freiwillige engagieren sich in Hilfsprojekten. Ziel dieses zweisprachigen Workshops (gesprochen wird überwiegend englisch) ist es, die Schüler mit unterschiedlichen Fluchtursachen zu konfrontieren, Herausforderungen zu beleuchten sowie Lösungsansätze nachhaltiger, zukunftsfähiger Integration zu diskutieren. Die Entwicklung der Meinungsbildung und Stärkung interkultureller Kompetenzen sind Kernstücke dieses Workshops, der von der Landeszentrale für politische Bildung angeboten wird. (wig)